Wer bedürfnisorientiert erziehen möchte, sollte achtsam sein – vor allem mit sich selbst. Hier die Meinung eines Experten
Es ist ein Thema, das viele Eltern umtreibt: Die Bedürfnisorientierte Erziehung. Sie klingt nach achtsam, liebevoll und harmonisch. Wer will nicht, dass das eigene Kind glücklich ist? Dass es selbstbestimmt aufwächst? Doch wer die bedürfnisorientierte Erziehung im Alltag umsetzt, merkt schnell: Es ist manchmal komplizierter, als es auf Instagram & Co. aussieht. Eltern aus meinen Achtsamkeitskursen sind verunsichert und berichten, dass aus guten Absichten schlechte Muster werden. Nicht zuletzt fühlen sie sich erschöpft und die Kinder wirken überfordert.
Drei Regeln, die Eltern bei der bedürfnisorientierten Erziehung beachten sollten
Um das zu verhindern, gibt es drei wichtige Regeln, sagt Dr. Timo Meister. Er ist Direktor der Fachakademie für Sozialpädagogik & Fachschule für Grundschulkindbetreuung Maria Stern in Nördlingen. Die erste: „Eltern dürfen echte Bedürfnisse nicht mit Wünschen verwechseln“, sagt er im Rahmen eines Vortrags in Asbach-Bäumenheim. Die Dr. Hermann Fendt Kita und der katholische Kindergarten Maria Immaculata haben den Info-Abend organisiert, um Licht ins Dunkel zu bringen. Eltern sollten stets unterscheiden, was ein Kind will und was es braucht. Sein Beispiel: Verlangt ein Kind spät abends Schokolade, obwohl es zu Abend gegessen hat, so ist das ein Wunsch. Es braucht die Schokolade jetzt nicht – stattdessen braucht es höchstwahrscheinlich Ruhe und Schlaf. In anderen Situationen ist es aber tatsächlich hungrig und braucht dringend etwas zu Essen – egal was.
Dr. Timo Meister zieht die Maslowsche Bedürfnispyramide zur Orientierung heran und empfiehlt: Die erste Stufe, also die Grundbedürfnisse Hunger, Durst, Schlaf und Liebe, sollten stets zuerst erfüllt werden. Auf der zweiten und dritten Stufe folgen Sicherheitsbedürfnisse und Soziale Bedürfnisse wie Zugehörigkeitsgefühl und Freundschaften. „Ja, manchmal stehen die Bedürfnisse im Widerspruch zueinander“, sagt er, beispielsweise wenn das Kind todmüde ist (Bedürfnis nach Schlaf) aber nicht ins Bett geht, weil es noch bei den Eltern bleiben möchte (Bedürfnis nach Zugehörigkeit). Dann sei es Aufgabe der Eltern, abzuwägen und die Führung zu übernehmen. Dazu gehöre auch, es auszuhalten, wenn das Kind tobt und man als Elternteil vermeintlich gehasst wird. Mit einem Augenzwinkern sagt Meister: „Irgendwann, wenn die Kinder älter sind, werden sie sagen: Hoppla, Mama und Papa hatten ja doch recht!“

Achtsam sein beim Umgang mit Smartphones
Bei einem Thema hat der Experte eine klare Haltung: Dem Kind als Strafe nicht das Handy wegnehmen, wenn es dadurch von seinen sozialen Kontakten abgeschnitten wird. Hier sehe er das Bedürfnis nach Zugehörigkeit heutzutage massiv verletzt. Das führe dazu, dass das Kind beim nächsten Mal schwindelt oder sich bei Ärger nicht mehr an die Eltern wendet. Stattdessen sollte man Kinder im Umgang mit dem Smartphone begleiten und sie wissen lassen, dass sie sich auch in schwierigen Situationen ohne Angst vor Strafen an die Eltern wenden können.
Dr. Timo Meister empfiehlt zudem, bei der Bedürfnisbefriedigung das Alter des Kindes zu berücksichtigen: Ein zweijähriges Kind beim Bäcker völlig frei entscheiden zu lassen, was es haben möchte, sieht er kritisch. Es sei damit schlicht überfordert. Besser sei es, einen Rahmen vorzugeben: „Was magst du: Semmel oder Breze?“ Mit zunehmendem Alter können mehr Entscheidungsmöglichkeiten angeboten werden. Er gibt den Eltern eine kleine Orientierung, welche Grundbedürfnisse Kinder haben – je nach Alter:
Diese Grundbedürfnisse haben Kinder (klick)
Kinder bis 3 Jahre: verlässlicher Tagesablauf, der mit Ritualen strukturiert ist, Begleitung bei neuen Erfahrungen, Hilfe bei der Körperpflege, Rückzugsorte.
Kinder von 3-6 Jahre: Sichere Strukturen, verlässliche Bezugspersonen, soziale Erfahrungen, mehr Entscheidungsmöglichkeiten (ohne Überforderung), mehr Bewegung, Freiraum und Zeit zum Lernen.
Schulkinder: Mitbestimmung im Alltag, viel Raum für Bewegung, wachsende Entscheidungschancen, Konfrontation mit gesellschaftlichen Werten, Rückzugsmöglichkeiten, kindgerechte Herausforderungen.
Als letzte, wichtige Regel nennt Dr. Timo Meister folgende: Es geht stets um die Bedürfnisse Aller – also auch um die der Eltern. Es sei wichtig, dass Eltern ihre eigenen Bedürfnisse kennen und sie sich selbst erfüllen. Auf keinen Fall sollten sie dauerhaft und systematisch die Bedürfnisse der Kinder über ihre eigenen stellen. „Eine Schüssel kann nur geben, so lange sie selbst gefüllt ist“, sagt er. Wie wahr. Es ginge nicht darum, dass die Erwachsenen um jeden Preis alle Bedürfnisse des Kindes ausnahmslos befriedigen und nur noch damit beschäftigt sind, dem Kind „gerecht“ zu werden. „Natürlich sind die Bedürfnisse des Kindes wichtig“, sagt er, „aber eben auch die der anderen Menschen um es herum.“
Fazit:
Kinder dürfen lernen, sich in einem bestimmten Rahmen zu bewegen und Frust auszuhalten. Die Erwachsenen dürfen dabei achtsam sein, echte Bedürfnisse hinter dem Verhalten erkennen und gut für sich selbst sorgen, damit sie die Kinder souverän und respektvoll begleiten können. Und – ganz wichtig: Akzeptieren, dass es nicht perfekt ist. Oft hilft beim Eltern-sein auch eine große Portion Humor.
Müde und erschöpft als Mama? Vielleicht hilft dir ein Achtsamkeitskurs (klick)
Facts zur Bedürfnisorientierten Erziehung
Ursprung: Entstand aus der Bindungstheorie (Bowlby & Ainsworth) und wurde in den 1990er-Jahren durch Dr. William & Martha Sears als Attachment Parenting bekannt.
Kernprinzip: Eltern reagieren feinfühlig auf die emotionalen und körperlichen Bedürfnisse ihres Kindes, überwiegend im Babyalter.
Annahme: Fördert empathische, selbstbewusste Kinder und stärkt langfristig die Eltern-Kind-Bindung, wenn auch die Selbstfürsorge der Eltern mitgedacht wird.
Mehrwert: Studien zeigen, dass sensible Reaktionen im Babyalter sichere Bindung, emotionale Stabilität und soziale Kompetenz fördern. Zudem reagieren Kinder empathischer und können Herausforderungen besser meistern, wenn ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind.
Kritik: Fehlende klare Definition, Gefahr von Überforderung und Perfektionismus bei Eltern; Missverständnisse zwischen Bedürfnissen und Wünschen, wenn die Kinder älter werden. Noch keine verlässlichen Langzeitstudien.