Familiencoach Leonie Ries gibt Tipps: Sieben klassische Stress-Situationen im Familienalltag
und was hinter dem Verhalten der Kinder steckt.
Wutanfälle nach dem Kindergarten: Dem Kind und sich selbst Halt geben
Viele Eltern kennen es: Sie holen ihr Kindergarten- oder Kitakind von der Einrichtung ab, freuen sich auf das Wiedersehen. Doch sobald die Tür ins Schloss fällt, fängt das Kind an zu toben. Die gute Nachricht für Eltern: Solche Wutanfälle werden in der Regel mit zunehmendem Alter der Kinder seltener. Die schlechte Nachricht: Es ist normal, dass sich Kinder nach einem vielleicht anstrengenden Kita-Tag Zuhause erstmal entladen müssen. „Die Kinder sind in der Einrichtung sehr angepasst, es gibt meist wenig Möglichkeiten für eine individuelle Entfaltung“, sagt Familiencoach Leonie Ries. Manche Kinder erleben im Kita-Alltag eine gewisse Grundanspannung. Auch wenn die Beziehung zu den Erzieher*innen gut ist und das Kind die Einrichtung gerne besucht, so ist die Hemmschwelle für ausgelassenes Verhalten doch größer als Zuhause. Wichtig ist es laut Leonie Ries zu verstehen, dass das Kind mit seinem Verhalten nicht provozieren oder die Eltern ärgern will. Es fühlt sich jetzt einfach sicher genug, um angestaute Anspannungen rauszulassen. „Dieses Verhalten ist ganz natürlich, wir haben als Eltern nichts falsch gemacht, im Gegenteil“ sagt Ries. Wutanfälle sind ein Vertrauensbeweis. Allerdings erleben viele Eltern diese als unangenehm – vielleicht weil sie selbst nicht die Erfahrung gemacht haben, dass sie okay sind. Wichtig ist es, herauszufinden, was das Verhalten des Kindes in einem selbst auslöst: Welche Gefühle, Gedanken, Emotionen. Fühle ich mich etwa provoziert? Habe ich denn selbst gelernt, meine Wut zu zeigen? Kann ich mit negativen Emotionen umgehen? Habe ich vielleicht sogar Angst, wie sich mein Kind entwickeln wird? Reflexion hilft Eltern dabei, entspannter auf Wutanfälle zu reagieren und dem Kind in dieser Situation Halt zu geben, sagt Leonie Ries. Für Kinder ist die Welt nach einem Wutanfall meistens auch schnell wieder in Ordnung und die Aufregung vergessen. Auch Eltern sollten mit ihren Gedanken nicht all zulange daran hängenbleiben.
Dauerbrenner: Hausaufgaben!
Schön ist, wenn die Wutanfälle mit zunehmendem Alter der Kinder seltener werden. Schlecht ist, wenn dafür andere Herausforderungen auf die Eltern zukommen – zum Beispiel die Hausaufgaben. Familiencoach Leonie Ries findet es grundsätzlich nicht gut, dass die Kinder die Schule quasi mit nach Hause nehmen und manche Eltern nachmittags zu Lehrkräften mutieren. „Wir haben als Eltern eine andere Rolle“, sagt sie. Wichtig sei es, dem Kind zu erklären, dass die Hausaufgaben gemacht werden müssen und man unterstützend zur Seite steht. Je nach Alter des Kindes könne man sich aber auch trauen, die Verantwortung dafür an das Kind zu übertragen: „Macht es die Hausaufgaben nicht, muss das Kind das am nächsten Tag selbst mit den Lehrern klären.“ Gibt es regelmäßig Probleme bei den Hausaufgaben, lohnt es sich, genauer hinzusehen: Ist das Kind über- oder unterfordert? Mag es nicht alleine dasitzen? Braucht es nach der Schule erstmal eine Pause? Oder lieber gleich erledigen? Am besten, man überlegt gemeinsam, wie und wann man die Hausaufgaben in den Tag einbaut.
Wie schaffe ich es, morgens gelassen zu bleiben – wenn die Zeit drängt und das Kind trödelt?
Leonie Ries stellt klar: Pünktlichkeit ist den Eltern wichtig, nicht den Kindern. Und für die Organisation der Abläufe am Morgen sind die Erwachsenen verantwortlich. Den Kindern die Schuld in die Schuhe zu schieben, weil man zu spät dran ist, sei nicht fair. „Manche Kinder benötigen morgens einfach Zeit, um in die Gänge zu kommen“, sagt Ries. Außerdem möchten viele Kinder morgens noch Aufmerksamkeit tanken, damit sie gut in den Kita- oder Schulalltag starten. Bekommen sie keine positive Aufmerksamkeit, geben sie sich auch mit negativer Aufmerksamkeit zufrieden. Es kann hilfreich sein, die Organisation am Morgen zu durchdenken und manches bereits am Vorabend zu erledigen, um das Kind bei morgendlichen Startschwierigkeiten zu begleiten. Zudem sei es wichtig, sich selbst die Frage zu stellen, was man braucht, um morgens entspannt zu sein. Ausreichend Schlaf? Eine Tasse Tee? Auf Stress und (Zeit-)Druck reagieren Kinder meist mit innerer Abneigung und kooperieren erst recht nicht.
Der Wutanfall im Supermarkt
Viele Eltern fühlen sich schon beim Gedanken an das Einkaufengehen mit Kindern gestresst. Genau hier sollte man ansetzen, meint Leonie Ries, und klären: Wie gehe ich eigentlich mit meinem Kind durch den Supermarkt? Oft ist man sehr fokussiert auf den Einkauf, vielleicht genervt, wenn das Kind quatsch macht. Es kann helfen, das Kind in den Einkauf miteinzubeziehen und Aufgaben zu übertragen. Auf Wünsche des Kindes können Eltern eingehen, ohne diese sofort zu erfüllen. Sieht ein Kind beispielsweise Schokolade, können Eltern Verständnis zeigen, dass diese richtig lecker aussieht, sie diese jetzt aber nicht kaufen werden. Dass Kinder beim Einkaufen verschiedene Dinge haben möchten, sei normal, meint Ries, und regt zum Nachdenken an: „Wie oft ist bei uns Erwachsenen schon was im Einkaufskorb gelandet, obwohl es gar nicht auf unserer Liste stand?“ Gut sei es, im Vorfeld zu besprechen, ob und was sich das Kind beim Einkauf aussuchen darf. Und ein Nein sollte auch begründet und nicht aus Prinzip oder Ärger heraus gesagt werden. Wirft sich das Kind trotzdem schreiend auf den Boden, sollte man am Besten ausblenden, was andere Leute über die Situation denken könnten. Eltern haben dem Kind etwas verwehrt, was es gerne gehabt hätte. Das ist für das Kind frustrierend. Doch die Eltern haben ihre Entscheidung begründet und bleiben dabei. Den Wutanfall halten sie aus.
Und was ist, wenn man als Elternteil merkt: Nein, ich halte das jetzt nicht aus?
Manchmal kann es laut der Expertin hilfreich sein, die Erwartung loszulassen, den Wutanfall nun beenden zu müssen. „Es geht vielmehr ums aus-halten“, sagt Ries, und wiederholt, sich selbst die Frage zu stellen, warum man den Wutanfall denn nicht aushält. Schön wäre es, wenn auch die Gesellschaft Mütter oder Väter mit tobenden Kindern nicht verurteilt, sondern Unterstützung anbietet und Verständnis in solchen Situationen zeigt.
Geschwisterstreitigkeiten zehren an den Nerven: Was tun?
„Erstmal sollte man sich klar machen, dass Geschwisterstreitigkeiten Lernprozesse sind“, sagt Leonie Ries. Deshalb seien sie wichtig, und sofern keine Gefahr für die Kinder droht, sollten Eltern versuchen, sich so wenig wie möglich einzumischen. Eltern wünschen sich natürlich Harmonie unter den Geschwistern und fühlen sich bei Konflikten gestresst. „Dabei ist es wichtig, Konflikte auszutragen.“ Streiten sich die Kinder und droht keine Gefahr, können Eltern fragen, ob die Kinder gerade Hilfe benötigen. Sie sollten aber nicht als Schlichter fungieren, sondern eher als Vermittler. Wenn zwei das gleiche Spielzeug haben wollen, ist es nicht Aufgabe der Eltern, zu entscheiden, wer es jetzt bekommt. Vielmehr sollten sie den Kindern zuhören und fragen: „Okay, ihr wollt beide das gleiche Spielzeug. Was machen wir denn jetzt?“ Manchmal finden Kinder gute Lösungen. Rivalitäten unter Geschwistern, um die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu ziehen, seien völlig natürlich. Vor allem die Erstgeborenen fühlen sich oft entthront von den jüngeren Geschwiestern. Hier können Mütter und Väter überlegen, ob jedes Kind ausreichend Exklusivzeit bekommt und die Kinder diese auch als gerecht empfinden.
Ich habe mein Kind während eines Besuchs bei Verwandten darum gebeten, etwas nicht zu tun – und es tut es trotzdem! Wie kann ich darauf entspannt reagieren?
Zunächst einmal weißt Leonie Ries darauf hin, dass das kindliche Gehirn oft nur einzelne Schlagwörter aus Sätzen filtert. Ein „nicht“ geht unter. Deshalb sei es besser, auf Sätze wie „Renn bitte nicht in der Wohnung rum“ zu verzichten und lieber auszusprechen, was das Kind stattdessen tun könnte. Bei Besuchen könnte man im Vorfeld überlegen, welche Spielsachen man mitnimmt oder ob es möglich ist, den Bewegungsdrang der Kinder in einem Garten zu befriedigen. Verhält sich ein Kind auf den ersten Blick total daneben, macht es beispielsweise (vermeintlich mit Absicht) eine Vase kaputt, sollte man als Elternteil die Situation erst einmal neutral betrachten: Das Kind hat die Vase kaputt gemacht. Oder das Kind hat die Wände bemalt. Der Gedanke, das Kind habe dies getan, um die Eltern zu ärgern oder zu provozieren, sei reine Interpretation. Doch hinter dem Verhalten stecken andere Gründe, meint Ries. Vielleicht braucht das Kind gerade Aufmerksamkeit und hat gelernt, wenn es etwas kaputt macht oder das Geschwisterchen haut, ist schnell ein Elternteil zur Stelle. „Dann nimmt es auch negative Aufmerksamkeit in Kauf.“ Manchmal zeigen Kinder durch ihr Verhalten auch, dass sie mit dem Druck, den Eltern verbal ausüben, nicht klarkommen. „Druck erzeugt immer Gegendruck“, sagt Ries.
„Ich war das nicht!“ – Kinder wählen die Antwort, die sich besser anfühlt
Kinder beobachten uns in jeder Situation und in jedem Moment. Deshalb dürfen sich Eltern selbst die Frage stellen: Sage ich immer und zu jeder Zeit die Wahrheit? „Kinder haben noch nicht den Blickwinkel dafür, dass Schwindeleien auffliegen können“, sagt Leonie Ries. Wenn sie jemanden hauen, wissen sie bestimmt, dass das nicht richtig war. Zu sagen, ich war das nicht, fühlt sich in diesem Moment einfach besser an. Außerdem befürchten sie Ärger, wenn sie die Wahrheit aussprechen. „Eltern sollten sich immer Fragen, ob sie mit der Wahrheit umgehen und sie akzeptieren können.“ Haben Eltern mit eigenen Augen gesehen, dass das Kind das Geschwisterchen geschlagen hat, können sie dies dem Kind mitteilen – und zwar neutral, ohne zu schimpfen. Besser ist es, das Verhalten zu besprechen und mit dem Kind die Ursachen zu klären. Zudem sollten Kinder immer das Gefühl haben, die Wahrheit sagen zu dürfen und zu wissen, dass es trotzdem sicher ist.